Raus in die Weite

Absolute Freiheit, Abenteuer und Weite bis zum Horizont – zur See fahren. Oder gibt es diese Freiheit nur in alten Seemannsschnulzen?
anp war mit Dirk Obermann von der Seemannsmission in Bremerhaven unterwegs.
Weltweit gibt es mehr als 1 Millionen Seeleute. 30.000 davon kommen jährlich zum Seemannsclub in Bremerhaven. Aber schon das „kommen“ ist nicht so einfach wie man denkt. Die Häfen sind abgeriegelt und eingezäunt und dürfen ohne Ausweis und Genehmigung nicht betreten werden. Und „betreten“ stimmt auch nicht – zu Fuß gehen ist streng verboten. Wer mit dem Auto hereinfahren darf, setzt ein rotes Blinklicht aufs Autodach, um nicht übersehen zu werden.
Vorab haben wir auf einem Plan geschaut, welche Schiffe für ein paar Stunden im Hafen liegen. Mit dabei haben wir eine Tasche mit Telefonkarten und Einladungen für den Seemannsclub „Welcome“.
Die Seeleute können einen Shuttlebus rufen, um dann in den Seemannsclub zufahren. Er ist von 15.00 bis 22.30 Uhr geöffnet. So haben die Seeleute nach dem Abendessen drei bis vier Stunden Zeit, die sie mal nicht auf dem Schiff verbringen. Wenn der Club schließt, werden sie wieder aufs Schiff gebracht.

Was ist den Seeleuten in ihrer freien Zeit am wichtigsten?

BT_seemannsmission_billiardtischDer Austausch mit den Familien. Sie mailen, sie skypen. Aber sie können auch andere Leute als ihre Crew sehen. Sie reden, sie spielen Billard. Billard ist übrigens das zweitwichtigste. Denn Billard kannst du auf einem Schiff nicht spielen. Es gibt noch einen kleines Sportplatz – auch eine Besonderheit. Im Laden decken sich die Seeleute gerne mit Süßigkeiten und Drogerieartikeln ein. Viele sind ganz wild auf Schokolade, aber nicht nur, um sie an Bord zu essen, sondern auch ihren Familien mitzubringen.

Wie groß ist die Mannschaft auf einem Containerschiff?

Kleiner als man denkt. Es gibt eine Bemannungsverordnung, die besagt, wie viele Leute auf dem Schiff arbeiten müssen. Die meisten großen Containerschiffe haben etwa zwanzig Leute an Bord.

Wie muss ich mir eine Schiffscrew vorstellen? Kommen alle aus einem Land?

Das gibt’s auch, es gibt Schiffe mit einer komplett indischen oder chinesischen Besatzung. Aber häufiger ist es so, dass bei deutschen Reedereien der Kapitän und der erste Offizier Deutsche sind, die Schiffsoffiziere aus Osteuropa und Russland kommen und die Crew von den Philippinen. Kommuniziert wird auf Englisch.

Wenn wir jetzt an Bord gehen, werden wir da freundlich empfangen?

BT_crewcontainerschiff_dirkobermannBestimmt. Im Allgemeinen werden wir hochgeschätzt. Die Seemannsmission hat einen guten Ruf – bei den Reedern wie bei der Crew. Das liegt aber auch daran, dass normalerweise kein Besuch an Bord kommt – höchstens Behörden, um etwas zu kontrollieren. Wir bringen etwas mit: Zeit, Telefonkarten, damit sie nach Hause telefonieren können, Zeitungen. Wir kommen, um sie zu unserem Club einzuladen und vor allem, um zu zuhören. Das ist unsere seelsorgerische Tätigkeit. Zuhören. Wir bieten ihnen die Möglichkeit, auch mal vom Schiff wegzukommen. Für viele Seeleute ist ein Ausflug in die Stadt oder nur mal in den Supermarkt eine echte Abwechslung.

Was magst du besonders an deiner Arbeit für die Seeleute?

Ich mag ihre Mentalität. Die allermeisten Seeleute sind Weltbürger. Sie müssen mit vielen Nationen, Kulturen und auch ständig wechselnden Umständen klarkommen. Sie kommen mit dem zurecht, was sie gerade haben. Auf dem Schiff wird dir keiner sagen: Das geht jetzt aber gerade nicht. Da gibt es etliche Parallelen zum Pfadfinden. Seeleute sind sehr höflich, vielleicht weil sie fast immer Gäste sind.

Wir reden immer von Seemännern. Gibt es auch Seefrauen?

Ja, einige wenige. Das sind meist Nautikerinnen, also Kapitäninnen oder Offiziere, seltener sind Frauen im Maschinenraum.

Und wie kommen die Frauen in dieser eher männlich geprägten Welt zurecht?

Auf dem Schiff gibt es eine starke Hierarchie. Der Kapitän hat das Sagen. Da spielt das Geschlecht erst in zweiter Linie eine Rolle. Dazu kommt die eben schon erwähnte Höflichkeit. Von vielen Seeleuten habe ich auch gehört, dass das Klima und der Umgangston sich verbessern, wenn Frauen an Bord sind.

Was ist denn noch dran am Seemannsmythos von der endlosen Freiheit auf dem Meer?

Nichts. Ich denke, man muss schon eine gewisse Sehnsucht nach der Ferne mitbringen, sonst kann man gar nicht zur See fahren. Aber frei und ungebunden sind die wenigsten. Sie haben fast alle Familien oder Beziehungen. Sie fahren zur See, um Geld zu verdienen. Die meisten sind neun oder zehn Monate auf See, dann zwei oder drei Monate zuhause, dann fahren sie wieder los. Im Rückblick sagen viele Seeleute, dass sie von ihren Kindern fast nichts mitbekommen haben. Geburtstage, Schulfeste… sie haben einfach viel verpasst. Trotzdem sind sie nicht bedauernswert – fast alle haben diesen Beruf selbst gewählt und es gibt auch viele schöne Momente an Bord. Und es gibt auch einen Mannschaftsgeist. Der ist nicht so ausgeprägt wie man sich den in der Seefahrerromantik vorstellt, denn die Besatzung verändert sich unterwegs. Manche gehen früher von Bord, dafür kommen andere. Es ist eher eine Zweckgemeinschaft.

Wie hat sich das Leben der Seeleute verändert?

BT_bremerhaven_containerschiff_abfahrtDie Bedingungen sind deutlich schlechter geworden – durch die Finanzkrise und die wirtschaftliche Konkurrenz zwischen den Reedereien. Die Schiffe werden immer größer, die Liegezeiten immer kürzer und viele Seeleute kommen gar nicht mehr vom Schiff. Viele sind froh, wenn die Schiffsmaschine mal nicht läuft und deshalb das Schiff nicht ständig vibriert. Eine der Folgen der Anschläge des 11. September sind die Verschärfung der Sicherheitsvorschriften. Seitdem sind alle Häfen eingezäunt und so abgesichert, so dass man kaum noch rein und raus kommt. Die Angst vor Piraten ist natürlich präsent. Und die Angst vor wirtschaftlichem Ruin. Manchmal werden Schiffe von ihren Reedereien aufgegeben, die liegen dann in zweiter Reihe im Hafen – mit ihrer Besatzung, die keine Heuer mehr bekommen, nichts zu essen haben und nicht wissen, wie es weitergeht. Einer sagte mir mal: Weißt du, was der einzige Unterschied zwischen einem Schiff und einem Gefängnis ist? Das Gefängnis kann nicht untergehen.

Haben Seeleute denn bestimmte Rituale? Gibt es die Äquatortaufe noch?

Ehrlich gesagt, vermutlich wenn Touristen an Bord sind. Das nimmt auch zu, dass große Schiffe Passagiere mit an Bord nehmen. Oder vielleicht bei der Marine. Aber von wegen Ritual: Der Speiseplan an Bord ist ganz wichtig, damit die Crew das Gefühl für die Wochentage nicht verliert: Donnerstag gibt’s Kuchen zum Kaffee, Freitag Fisch und Sonntagabend nur kaltes Essen.

Stimmt es, dass sich Seeleute beim Landgang tätowieren lassen?

Die meisten kommen ja kaum raus. Und sie fahren zur See, um möglichst viel Geld zu verdienen. Das geben sie dann vermutlich nicht für sowas aus. Wenn, dann ziehen eher die jüngeren Seeleute abends mal los, die älteren bleiben meist an Bord und sind froh, wenn sie ihre Ruhe haben.

Was macht ihr bei Krisenfällen?

Wenn es Probleme an Bord gibt, versuchen wir zu vermitteln und stellen auch Kontakte zur ITF (International Transportworkers Federation) her. Wenn es zu einem Todesfall auf dem Schiff gekommen ist, machen wir eine Trauerfeier. Manchmal wird das Schiff auch wieder gesegnet. Das wichtigste ist aber, mit den Leuten an Bord zu sprechen und ihnen zuzuhören. Wenn etwas Schlimmes passiert, muss der Kapitän immer den Kopf hinhalten. Dazu kommen umfangreiche Untersuchungen durch die Polizei und die Versicherung. Ich erinnere mich an einen Fall, wo auf der Themse ein noch sehr junger Seemann über Bord gegangen ist. Der Kapitän ließ das Schiff umkehren, um den Jungen zu suchen. Die Wahrscheinlichkeit, dass man ihn finden würde, war gering, trotzdem machte er es. Die Reederei hat ihm dafür Vorwürfe gemacht. Meiner Meinung nach – und das habe ich ihm auch gesagt – hat er völlig richtig gehandelt. Es war auch erstaunlich, wie die Crew damit umgegangen ist: Ein alter Seemann wollte es einfach nicht glauben. Er war steif und fest davon überzeugt, dass der Junge sich irgendwo auf dem Schiff versteckt habe und wieder auftauchen würde. Die Seeleute haben dann an der Stelle, wo der Junge verschwunden war, eine Trauerzeremonie veranstaltet.

Sind Seeleute gläubig oder eher abergläubig?

Eigentlich nicht, die philippinischen Seeleute sind sehr katholisch. Ich glaube aber schon, dass Seeleute häufig einen anderen Umgang mit ihrem Glauben haben, weil sie Gefahren und den Naturgewalten ganz anders ausgeliefert sind als wir an Land. Vor sich sehen sie endloses Meer, über sich den Himmel und die Sterne. Da kommt man dann schon ins Nachdenken.

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