Liebt Eure Feinde! Verkauft alles und gebt es den Armen! – Radikale Jesusworte als biblischer Zunder
Schaut die Lilien auf dem Felde an, wie sie wachsen: Sie arbeiten nicht, auch spinnen sie nicht. (…) Darum sollt ihr Euch nicht sorgen und sagen: (…) Womit werden wir uns kleiden?“ [Mt 6, 28–31 (gekürzt)] „Ich aber sage Euch: Liebt Eure Feinde!“ (Mt 5,44) „Geh hin und verkaufe alles, was du hast, und gib’s den Armen!“ (Mk 10, 21) – Diese Aneinanderreihung und Auflistung von radikalen Jesusworten ließe sich problemlos fortsetzen. Viele dieser radikalen Aufforderungen stammen aus der berühmten Bergpredigt (Mt 5–7), in der Jesus wichtige Gebote des Alten Testaments radikalisiert – wie z. B. das Gebot der Feindesliebe (Mt 5, 43–48). Es lässt sich also feststellen: Jesus vertrat – wie die Evangelien überliefern – zu vielen gesellschaftspolitischen Fragen, wie z. B. „Krieg und Frieden“, „Armut und Reichtum“, „Umgang mit Menschen mit Migrationshintergrund“ oder „geschlechtsspezifische Rollenbilder“ eindeutige Positionen – und diese Themen sind auch heutzutage noch brandaktuell
Ebenso war Jesus in seinem Handeln konsequent und radikal, wie z. B. die Geschichte von der „Vertreibung der Händler aus dem Tempel“ (Mk 11, 15–17), „Die Heilung der Tochter der Syrophönizierin“ (Mk 7,24–36) oder auch die „Geschichte der ungleichen Schwestern Maria und Marta“ (Lk 10, 38–42) zeigen. Und auch diese Aufzählung ließe sich fortsetzen. Also: Die Taten Jesu stehen mit seinen radikalen Worten im Einklang.
Sind die radikalen Jesusworte nichts als Schwärmerei?
Doch was heißt das für uns? Wie sollen bzw. können wir in unserer Zeit die radikalen Jesusworte lesen, verstehen und umsetzen? Sind sie Zunder und Aufruf zur Revolution? Was bedeutet das Jesuswort: „Es ist leichter, dass ein Kamel durch ein Nadelöhr gehe, als dass ein Reicher ins Reich Gottes komme!“ (Mk 10, 25)? Sollen oder müssen wir als Christ*innen in der Nachfolge Jesu die ungerechte Verteilung des Reichtums in der Welt durch eine Weltrevolution beenden? Von den Jüngern Jesu berichtet der Evangelist Markus, dass sie „sich entsetzten“ über diese Radikalität Jesu und miteinander die Frage diskutierten, wer dann überhaupt noch selig werden könne (vgl. Mk 10, 24–27). Jesus antwortete den Jüngern: „Bei den Menschen ist‘s unmöglich, aber nicht bei Gott, denn alle Dinge sind möglich bei Gott.“ (Mk 10, 27). Sind die radikalen Jesusworte also bloß eine visionäre, religiöse Schwärmerei, die nichts mit der realen Welt zu tun hat? Oder sollen diese Jesusworte uns Menschen den Spiegel unserer menschlichen Unvollkommenheit vor Augen halten? Oder gelten diese radikalen Forderungen vielleicht nur für Nonnen und Mönche? Es gibt verschiedene Theorien zu der Frage, wie die Bergpredigt und die radikalen Jesusworte verstanden bzw. gedeutet werden können
Radikale Nächsten- und Selbstliebe
Auf die Frage, was denn das wichtigste Gebot sei, hat Jesus mit dem berühmten Doppelgebot der Liebe geantwortet: „Du sollst den Herrn, deinen Gott, lieben von ganzem Herzen, von ganzer Seele und von ganzem Gemüt. Dies ist das höchste und größte Gebot. Das andere aber ist dem gleich: ‚Du sollst deinen Nächsten lieben wie dich selbst.‘“ (Mt 22, 37–39). Hier geht es also einerseits um Gottesliebe, und anderseits um Nächsten- und Selbstliebe. Was Jesus unter Gottes-, Nächsten- und Selbstliebe versteht, erklärt er anschaulich im Gleichnis vom barmherzigen Samariter Schaut die auf dem Felde Liebt Eure Feinde! Verkauft alles und gebt es den Armen! – Radikale Jesusworte als biblischer Zunder von Andreas Witt Lilien Bild: © Leo Chane (unsplash) „ Zunder 11 (Lk 10, 25–37). In diesem Gleichnis steckt wieder viel biblischer Zunder: Der Priester und der Levit als Vertreter der institutionellen Religion werden regelrecht vorgeführt. Ihre Gottesliebe – und vermeintliche Angst, durch den Kontakt mit dem Blut des verletzten Opfers unrein zu werden, – zählt nicht als mögliche Begründung oder Entschuldigung für ihr Vorbeigehen bzw. ihre Nicht-Hilfe. Stattdessen hilft ausgerechnet ein Samariter, ein – überspitzt formuliert – „jüdischer Outlaw“. Dieses Gleichnis ist ein eindeutiger Aufruf zum konkreten Handeln, und zwar genau dort, wo wir gerade gefordert sind: Nächstenliebe kennt keine Grenzen! Doch was heißt die Formulierung „Wie dich selbst?“ im Blick auf diese radikale Nächstenliebe?

Letztlich muss jede*r eine eigene Deutung finden
Neben dem deutlichen Verweis auf den ethischen Grundsatz der „Goldenen Regel“ [„Alles nun, was ihr wollt, dass euch die Leute tun sollen, das tut ihnen auch.“ (Mt 7, 12)] verstehe ich den Hinweis auf die Selbstliebe auch so, dass jede*r für sich persönlich den eigenen Weg bzw. die Antwort finden muss – und dies gilt auch für die Deutung der radikalen Jesusworte: Wie verstehst Du diese radikalen Forderungen für Dich? Und dabei können wir auf Gottes Fürsorge und Gottes Geist hoffen und vertrauen: „Schaut die Lilien auf dem Felde, …“ (Mt 6, 28)
Achtung vor Gott, dem Nächsten und sich selbst
Die Lilie ist eine Blume mit großer Symbolkraft: Ihre weiße Farbe steht für Reinheit, die aufrechten Blätter stehen für Ritterlichkeit und Aufrichtigkeit, aber auch Orientierung. Deswegen hat Baden-Powell die Lilie als Zeichen für das Pfadfinden ausgewählt: Finde deinen persönlichen Weg! Und das Gleichnis vom barmherzigen Samariter lässt sich in der symbolischen Bedeutung der drei Lilienblätter wiederfinden. Diese lassen sich nämlich – neben anderen Interpretationen – als „Suche nach dem Lebenssinn“ (vgl. „Gottesliebe“), „Verantwortung gegenüber den Mitmenschen“ (vgl. Nächstenliebe) und „stetige Auseinandersetzung mit sich selbst“ (vgl. Selbstliebe) deuten. Zu dieser Interpretation der drei Lilienblätter passt gut ein Zitat von Baden-Powell: „Achtung vor Gott und Achtung vor dem Nächsten und Achtung vor sich selbst als Diener Gottes ist die Grundlage jeder Form von Religion“
Anmerkung: Die Bibelzitate folgen der revidierten Lutherbibel von 1984. Das B.-P.-Zitat ist übernommen aus: M. Sica (Hrsg.), Spuren des Gründers – Zitate aus den Schriften des Lord Baden-Powell, Neuss 2007, S. 108.
Übrigens: Die Lilie hat für uns Pfadis eine große Bedeutung. Eine Schwertlilienblüte diente als Inspiration für unser VCP-Logo.
